Rebell der Moderne

Medardo Rossos bahnbrechende Bildhauerei

Künstler und Handwerker, Kunsttheoretiker und Proto-Installationskünstler, Meister von Inszenierungen – Medardo Rosso (1858–1928) war einer der Pioniere der Moderne und eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Das mumok widmet dem italienisch-französischen Künstler eine Retrospektive und stellt sein Werk in den Dialog mit Werken anderer Künstler, darunter Edgar Degas, Constantin Brâncuși, Louise Bourgeois, Jasper Johns, Robert Morris, Lynda Benglis, Eva Hesse, Marisa Merz und Phyllida Barlow.




 

 

ebenso bahnbrechend wie hermetisch

Mit seinen Skulpturen aus Wachs und Bronze sprengte Medardo Rosso die akademischen Konventionen und ging in seiner Formensprache völlig neue Wege.

Die von Heike Eipeldauer in enger Zusammenarbeit mit dem Medardo Rosso Estate kuratierte Ausstellung setzt mit der intensiven Analyse von Rossos prozessualem und repetitivem Ansatz ein, mit dem sich der Künstler über alle Konventionen der traditionellen Skulptur hinwegsetzte. Bereits mit seinen Bronzeskulpturen, die er in der Pariser Weltausstellung von 1889 zeigte, erregte er bei den Kritikern großes Aufsehen. Guillaume Apollinaire bezeichnete ihn 1918 – nach dem Tod von Auguste Rodin – sogar als den größten lebenden Bildhauer seiner Zeit.

Und dennoch ist sein Werk – er hinterließ ein quantitativ eher überschaubares Œuvre – heute wenig bekannt. Das liegt auch daran, dass die Entwicklung der modernen Skulptur im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert im kunsthistorischen Rückblick stets mit dem Werk Auguste Rodins verbunden wird, mit dem Rosso eine Zeit lang befreundet war und auch gemeinsam ausstellte, bis es zum Zerwürfnis zwischen den beiden Bildhauern kam.

Medardo Rosso, Ecce Puer, 1920 (1906), Wachs auf Gips, 47 x 34 x 32 cm, Collection Peter Freeman, Inc. New York/Paris and Amedeo Porro Fine Arts Lugano/London, ©Marilena Anzani

 

Die Erneuerung der Skulptur

Künstler wie Maillol, Meunier, Brânçusi oder Archipenko trugen zu einer neuen Auffassung der Skulptur in Paris um 1900 bei. Wichtige Beiträge zur modernen Skulptur und Plastik wurden darüber hinaus auch von Malern wie Degas, Derain, Duchamps, den Futuristen und kubistischen Maler sowie nicht zuletzt von Picasso geleistet.

„Daumier, Degas, Renoir und Gauguin haben Plastiken hinterlassen, die zwar ungeschliffen, aber immer von ergreifender Wahrhaftigkeit sind. Sie sind Antipoden der akademischen und langweiligen Produktion der Karriere-Bildhauer“, schrieb etwa der Kunstkritiker Michel Seuphor in seiner 1959 erschienenen Publikation „Die Plastik unseres Jahrhunderts“.

Auch Edgar Degas’ Skulptur „Kleine 14-jährige Tänzerin“ ist in der Ausstellung im mumok zu sehen – eine sensationelle Leihgabe und ein zentrales Werk, das 1881 in der 6. Impressionisten-Ausstellung einen Skandal auslöste, der sowohl die verwendeten Materialien als auch das Motiv betraf. Ziel des Bildhauers war es, Bewegung, Flüchtigkeit und Licht auch in dreidimensionalen Werken einzufangen. Daher bediente er sich formbarer Materialien wie Wachs, Gips, Ton oder Plastilin, die erst später – oder zuweilen auch nicht – in dauerhafte Bronze überführt wurden, und modellierte eine strukturierte Oberfläche, an der sich das Licht brechen konnte.

Edgar Degas, Little dancer aged fourteen, 1880-81 (cast made c.1922), Bronze, Faser, 98 x 51 x 51 cm, Sainsbury Centre, UEA, UK, © Pete Huggins      

 

Rosso gilt als „impressionistischer Bildhauer“, doch geht er weit darüber hinaus. Seine skulpturale Auffassung war nicht nur für seine Zeitgenossen prägend, sondern übte auch auf die nachfolgende Bildhauergeneration nachhaltige Wirkung aus. Radikal und unkonventionell versuchte er die Grenzen des Mediums Skulptur zu sprengen, nicht zuletzt durch seine besondere Vorliebe für das Material Wachs. Er fotografierte seine Skulpturen und stellte die Aufnahmen als autonome, eigenständige Werke aus, oft collagenartig zusammengesetzt und begleitet von Texten. Einige davon werden in der Ausstellung zu sehen sein.

Rosso, der vom Modellieren bis zum Guss alles eigenhändig anfertigte, integrierte auch Spuren des Arbeitsprozesses wie Blasen oder Gussnähte in das fertige Werk. Ein weiteres Charakteristikum seiner künstlerischen Praxis ist das Variieren seiner Motive und das Arbeiten in Serien, wobei er dies nie als „Entwicklung sah, sondern als Vertiefung“, so Heike Eipeldauer

Medardo Rosso, Portinaia e David, o.D, Schwarz-Weiß-Fotografie, 23,8 x 17,7 cm, Museo Medardo Rosso, Barzio; Private Collection

 

Ist Skulptur langweilig?

Der französische Dichter und Kritiker Charles Baudelaire betitelte 1846 einen Text zum Pariser Salon „Warum die Skulptur langweilig ist (Pourquoi la sculpture est ennuyeuse)“ und wies die Skulptur als die „bescheidenen Gefährten der Malerei“ aus. Skulpturen fehle es an Phantasie und an der Raffinesse der Bilder, so Baudelaire. Außerdem sah er in der Mehransichtigkeit interessanterweise einen Nachteil.

Betrachtet man das unkonventionelle Œuvre Rossos, so scheint er den Beweis antreten zu wollen, dass der damals vielbeachtete Kritiker Baudelaire Unrecht hat – Skulptur ist nicht langweilig. Doch in einem Punkt folgte er Baudelaire – er schuf Skulpturen, deren Motive nur aus einer frontalen Ansicht zu erkennen sind. Stets bezog er in der Präsentation seiner Skulpturen auch den Raum mit ein, entwarf entsprechende Displays und hatte genaue Vorstellungen, wie seine Skulpturen betrachtet werden sollten. Er versuchte, den flüchtigen Charakter, die Darstellung eines kurzen Augenblicks zu vermitteln.

Medardo Rosso, Bambino malato, 1895, Gips, 17.5 x 20 x 19.3 cm, © Museo Medardo Rosso, Barzio, Foto: Archivio Medardo Rosso

 

Medardo Rosso und Wien

1903 war Rosso in Wien in der Impressionisten-Ausstellung in der Secession präsent und 1905 erhielt er eine Einzelausstellung im Wiener Kunstsalon „Artaria“. Die Wiener Zeit von Rosso ist, so Heike Eipeldauer, gut dokumentiert. Nicht zuletzt aufgrund seines Unfalls mit einer Straßenbahn auf der Mariahilfer Straße und seines Aufenthaltes im Sophienspital sowie in der Folge im Hotel de France.

In Wien lernte Rosso auch den Sammler Hermann Eissler kennen. Mit der Bronze-Skulptur „Aetas Aurea“ (Das Goldene Zeitalter) aus dem Jahr 1902 erwarb Eissler ein Hauptwerk des Künstlers. Dieses schrieb im Mai 2014 abermals Geschichte, als es mit 280.000 Euro bei der Auktion Klassische Moderne im Wiener Auktionshaus im Kinsky den bislang höchsten Preis für ein Werk Rossos erzielte. Die Skulptur zeigt die zärtliche Berührung zwischen Mutter und Kind – konkret die Frau des Künstlers und seinen Sohn Francesco. Das Thema Mutter und Kind wurde in der Folge zu einem kontinuierlichen Thema.

Medardo Rosso, Aetas aurea, (Detail), 1886, Wachs auf Gips, 50 x 48 x 35 cm, Courtesy of Amedeo Porro Fine Arts Lugano/London, Foto: mumok / Markus Wörgötter

 

Der Grundstein für die vielfältigen Fragestellungen an die Skulptur ab den 1960er-Jahren wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts durch eine Reihe von Künstlern, darunter Rosso, gelegt. Sein Werk ist schwer fassbar, da er selbst Werke neu datierte und umbenannte. Umso interessanter sind seine durchaus auch heute noch geltenden Ansätze einer zeitgenössischen künstlerischen Praxis. So greift Heike Eipeldauer einige Parameter seines Werks heraus und stellt sie in einen Dialog mit Zeitgenossen und Künstlern nachfolgender Generationen. Die Schau folgt darin Rossos eigener künstlerischer Praxis, zumeist nicht allein auszustellen, sondern in „Konversation“ mit anderen. Ebenso zeigt sie auch die fruchtbare Wechselbeziehung im Werk Rossos zwischen den Medien Fotografie, Zeichnung und Skulptur.

 

Lesen Sie den ganzen Artikel in der aktuellen PARNASS-Ausgabe 03/2024.

Louise Bourgeois, Child devoured by kisses (Detail), 1999, Stoff, Garn, Edelstahl, Holz und Glas, 197 x 127 x 91,4 cm, © The Easton Foundation / Bildrecht, Wien 2024

mumok

Museumsplatz 1, 1070 Wien
Österreich

Medardo Rosso Die Erfindung der modernen Skulptur

18.10.2024 bis 23.02.2025

mumok.at