Cinematografie

Jeff Wall in der Schweiz: Meister der Inszenierung

Jeff Wall, Vor einem Nachtclub, 2006, Grossbilddia in Leuchkasten, 226 x 360,8 cm, Courtesy der Künstler © Jeff Wall

Die Fondation Beyeler in Riehen zeigt eine großangelegte Werkschau des kanadischen Meisters inszenierter Fotografie Jeff Wall.


Über 50 großformatige Werke aus allen Schaffensphasen sind zu sehen: ikonische Großbilddiapositive in Leuchtkästen, Schwarz-Weiß-Fotografien und neueste Inkjet-Farbdrucke.

Neue Kunstform: Fotografie

Jeff Wall (*1946 Vancouver), ausgebildeter Kunsthistoriker, befasst sich seit den 1960er- Jahren mit Fotografie. Es ist auch ihm zu verdanken, dass sich die Fotografie als eigenständige Kunstform etablierte. Seine Bilder zeichnen sich durch eine absolute künstlerische Freiheit aus. Viele Fotografien sind konstruiert: Wall stellt Szenen nach, die ihm vorschweben oder die er gesehen hat. Dabei arbeitet er mit Statisten und integriert immer den Zufall in seine Arbeit. Trotz der Inszenierung lässt er so Abweichungen zum Konstruierten bewusst zu.

Dabei lehnt er sich an die Filmkunst an, in der er Freiheit und Erfindungskraft ortet. So muten denn auch seine Bilder wie Momentaufnahmen eines Filmes an. Der Betrachter fragt sich, was vor dem abgebildeten Moment stattgefunden hat, und denkt „filmisch“ weiter. Darum nennt Wall seine Fotografie auch „Cinematografie“. Ein Beispiel dafür ist sein Bild „Ein plötzlicher Windstoß (nach Hokusai)“ (1993). Hier wirbelt ein Windstoß einen ganzen Papierstapel aus den Händen einer Frau.

Jeff Wall, ein plötzlicher Windstoß (Nach Hokusai), 1993, Grossbilddia in Leuchtkasten, 229 x 377 cm, Glenstone Museum, Potomac, Maryland © Jeff Wall

Jeff Wall, ein plötzlicher Windstoß (Nach Hokusai), 1993, Großbilddia in Leuchtkasten, 229 x 377 cm, Glenstone Museum, Potomac, Maryland © Jeff Wall

Wall ließ sich von einer der „36 Ansichten des Berges Fuji“ (1830–32) des berühmten japanischen Meisters Hokusai anregen. Aber auch „Milch“ (1984) zeigt einen Moment der Spannungsentladung, die den Protagonisten eine Milchpackung so drücken lässt, dass die Milch wie Lava aus einem speienden Vulkan aus der Packung entweicht. Bei beiden Aufnahmen ist ein bestimmter Moment einer Bewegung festgehalten und der Zufall war der Taktgeber der Aufnahme.

Jeff Wall, Milk (Milch), 1984, Grossbilddia in Leuchtkasten, 187 x 229 cm, Sammlung FRAC Champagne-Ardenne, Reims © Jeff Wall

Jeff Wall, Milch, 1984, Großbilddia in Leuchtkasten, 187 x 229 cm, Sammlung FRAC Champagne-Ardenne, Reims © Jeff Wall

Kulturthemen im Leuchtkasten

Die Themenwahl des Künstlers ist sehr breit: Literatur, Kunstgeschichte, Theater, Erlebtes und seine inneren Bilder sind die Ausgangspunkte. Wall bewegt sich virtuos zwischen dokumentarischer Aufzeichnung, filmischer Komposition und freier poetischer Erfindung. Ab Mitte der 1970er- Jahre zeigt er seine Diapositive in großformatigen Leuchtkästen, die den Betrachter noch tiefer in seine Bilder holen. Viele dieser ikonischen Werke sind in der Ausstellung zu sehen, deren Kuratierung und Katalog in enger Zusammenarbeit mit Wall entstanden sind. So konzipierte der Künstler nach eigenen Worten jeden Raum wie ein Blumenbouquet – vielschichtig, nuanciert. In der Gegenüberstellung von älteren und jüngeren Werken tritt eine thematische und kompositorische Linie an den Tag.

Wall lotet auch die Grenzen seines Mediums aus. So stellt er eine Szene aus dem Afghanistankrieg nach, in der die toten Soldaten zu sprechen scheinen. Die Szenerie wirkt grotesk und geht unter die Haut – es ist ein eigentliches Antikriegsfoto, das die Absurdität des Krieges thematisiert.

Jeff Wall, Nach 'Der unsichtbare Mann' von Ralph Ellison, der Prolog, 1999–2000, Grossbilddia in Leuchtkasten, 174 x 250,5 cm, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, © Jeff Wall

Jeff Wall, Nach 'Der unsichtbare Mann' von Ralph Ellison, der Prolog, 1999–2000, Großbilddia in Leuchtkasten, 174 x 250,5 cm, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, © Jeff Wall

Walls Unorte

Aber auch das Fantasy-Genre bedient der Künstler mit dem Bild „Das überflutete Grab“ (1998–2000), das in seinem enormen Detailreichtum, der übrigens alle Werke von Wall auszeichnet, auch einen kleinen Oktopus abbildet, das Lieblingstier des Künstlers.

Jedes Bild ist ein eigener freier Entwurf. So zeigen denn auch viele Bilder Alltagsszenen, die aber durch die sehr spezielle Komposition und deren eigenwilligen Charakter den Betrachter förmlich ins Bild „saugen“. Wall zeigt, was eigentlich nicht zu sehen ist – die Zeit steht in seinen Bildern still. Es sind Momentaufnahmen einer Realität, die unsere Gesellschaft auszeichnet. Oft sind es Unorte, die Wall faszinieren: verlassene Brachen, in denen Randständige ihr Nachtrevier suchen. Auch bei seinen literarischen Vorlagen zeigt sich Walls Sinn für künstlerische Freiheit: Er lehnt sich zwar an den Inhalt an, bestimmt aber den Fokus der gewählten Szene selbst.

Jeff Wall, Das überflutete Grab, 1998–2000, Grossbilddia in Leuchtkasten, 228,5 x 282 cm, Courtesy der Künstler, © Jeff Wall

Jeff Wall, Das überflutete Grab, 1998–2000, Großbilddia in Leuchtkasten, 228,5 x 282 cm, Courtesy der Künstler, © Jeff Wall

Jeff Wall ist ein scharfer Denker, ein ausgezeichneter Kenner der Kunstgeschichte, aber zugleich auch ein Künstler, dessen Komplize der Zufall und engster Freund die Freiheit ist, wie es Museumsdirektor Sam Keller in seiner Einführung formulierte. Walls Art der Komposition, der Detail- und Inhaltsreichtum sowie die vielfältigen Verweise und das Ausloten der Grenzen des Mediums machen ihn noch immer zum Taktgeber in der Kunstform der Fotografie. Die Räumlichkeiten der Fondation Beyeler und die ausgezeichnete Ausleuchtung der Werke lassen den Besuch zu einem bleibenden Erlebnis werden.

Jeff Wall, Morgendliche Reinigung, Fundació Mies van der Rohe, Barcelona, 1999, Grossbilddia in Leuchtkasten, 187 x 351 cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Erworben 2000 mit Unterstützung des Ernst von Siemens-Kunstfonds, © Jeff Wall

Jeff Wall, Morgendliche Reinigung, Fundació Mies van der Rohe, Barcelona, 1999, Großbilddia in Leuchtkasten, 187 x 351 cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Erworben 2000 mit Unterstützung des Ernst von Siemens-Kunstfonds, © Jeff Wall

Jeff Wall, Vor einem Nachtclub, 2006, Grossbilddia in Leuchkasten, 226 x 360,8 cm, Courtesy der Künstler © Jeff Wall

Jeff Wall, Vor einem Nachtclub, 2006, Großbilddia in Leuchkasten, 226 x 360,8 cm, Courtesy der Künstler © Jeff Wall

Jeff Wall, ein plötzlicher Windstoß (Nach Hokusai), 1993, Grossbilddia in Leuchtkasten, 229 x 377 cm, Glenstone Museum, Potomac, Maryland © Jeff Wall

Jeff Wall, ein plötzlicher Windstoß (Nach Hokusai), 1993, Großbilddia in Leuchtkasten, 229 x 377 cm, Glenstone Museum, Potomac, Maryland © Jeff Wall

Jeff Wall, Nach 'Der unsichtbare Mann' von Ralph Ellison, der Prolog, 1999–2000, Grossbilddia in Leuchtkasten, 174 x 250,5 cm, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, © Jeff Wall

Jeff Wall, Nach 'Der unsichtbare Mann' von Ralph Ellison, der Prolog, 1999–2000, Großbilddia in Leuchtkasten, 174 x 250,5 cm, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, © Jeff Wall

Jeff Wall, Milk (Milch), 1984, Grossbilddia in Leuchtkasten, 187 x 229 cm, Sammlung FRAC Champagne-Ardenne, Reims © Jeff Wall

Jeff Wall, Milch, 1984, Großbilddia in Leuchtkasten, 187 x 229 cm, Sammlung FRAC Champagne-Ardenne, Reims © Jeff Wall

Jeff Wall, Das überflutete Grab, 1998–2000, Grossbilddia in Leuchtkasten, 228,5 x 282 cm, Courtesy der Künstler, © Jeff Wall

Jeff Wall, Das überflutete Grab, 1998–2000, Großbilddia in Leuchtkasten, 228,5 x 282 cm, Courtesy der Künstler, © Jeff Wall

Fondation Beyeler - Riehen

Baselstraße 101, 4125 Riehen
Schweiz

Jeff Wall

bis 21. April 2024

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